Ermessen bei vorzeitigem Maßnahmebeginn hinsichtlich eines abtrennbaren Gewerks mit geringem Anteil an Gesamtförderung - VG Gießen, Urteil vom 20.09.2019 - Az. 4 K 831/19.GI
von Michael Pilarski
Aus Sicht der Zuwendungsgebers ist eine vollständige Rücknahme des Bewilligungsbescheids bei einem Verstoß gegen das Verbot eines vorzeitigen Maßnahmebeginns durch Vertragsschluss bzw- Zuschlag vor Bewilligung der Regelfall. Der Zuwendungsempfänger gibt in diesem Fall zu erkennen, dass er finanziell im Stande ist, das Vorhaben ohne die Förderung durchzuführen. Es fehlt der sogenannte Anreizeffekt der Förderung, es verwirklicht sich nur der Mitnahmeeffekt. Der Zuwendungsgeber verliert die Steuerungsmöglichkeit hinsichtlich der Vorhabenförderung. Der Zuwendungsempfänger überfordert sich unter Umständen bereits finanziell. Aus diesen Gründen ist ein vorzeitiger Maßnahmebeginn in der Regel nach den Verwaltungsvorschriften zu den Landeshaushaltsordnungen untersagt.
Das Urteil des VG Gießen ist in dieser Hinsicht bemerkenswert und als zuwendungsempfängerfreundlich zu bezeichnen. So heißt es im Leitsatz:
"Bei trennbaren Gewerken in einem Fördervorhaben hat die Behörde trotz grundsätzlich intendierten Ermessens ihr Rücknahmeermessen auszuüben und zu begründen, wenn sie die gewährte Förderung zu 100 % zurücknimmt und zurückfordert, wenn der gerügte vorzeitige Maßnahmenbeginn sich bei trennbaren Gewerken nur auf ein Gewerk bezieht, das lediglich 3 % der Gesamtförderung ausmacht; dies ist der Atypik gezollt."
Das heißt zunächst, dass das Ermessen des Zuwendungsgebers zur Rücknahme zwar intendiert ist, wenn ein Zuwendungsempfänger einen Verstoß gegen den vorzeitigen Maßnahmebeginn begeht. Jedoch entbindet ihn dieses intendierte Ermessen keineswegs davon, zu prüfen, ob ein atypischer Fall vorliegt und in die Ermessenserwägungen einzustellen, ob bei Vorliegen eines atypischen Falls unter Umständen eine Rücknahme des Bewilligungsbescheid in geringerem Umfang als zu 100% gerechtfertigt wäre. Das VG Gießen hat dies bei einem abtrennbaren Gewerk, das wertmäßig lediglich 3 % der Gesamtförderung ausmacht, bejaht und ist von einer fehlerhaften Ermessensentscheidung des Zuwendungsgebers ausgegangen. Laut VG war nicht erkennbar, dass sich der Zuwendungsgeber mit der Frage einer teilweisen Rückforderung der subventionswidrig geförderten Maßnahme auseinandergesetzt und etwaige dafür sprechende Belange mit den in der Landeshaushaltsordnung niedergelegten Grundsätzen der Sparsamkeit der Verwendung öffentlicher Mittel abgewogen hätte. Die Entscheidung des Zuwendungsgebers verhielt sich ausweislich seiner Begründung nicht einmal ansatzweise dazu, weshalb bei dieser Sachlage eine nur teilweise Rücknahme und Rückforderung nicht in Frage gekommen ist. Dass die ausgekehrte Gesamtfördersumme ausweislich des Verwendungsnachweises des Zuwendungsempfängers größtenteils planmäßig und sachgerecht für andere, nach Erlass des Zuwendungsbescheids vergebene und begonnene Arbeiten eingesetzt worden ist, blieb dabei völlig außer Betracht. Diesen Umstand hätte der Zuwendungsgeber nach Aktenlage in ihre Ermessensentscheidung einstellen müssen.
Rechtlich begegnet die vom VG vertretene Auffassung durchaus Bedenken, wenn man die oben genannten Gründe des Verbots des vorzeitigen Maßnahmebeginns sowie dessen Sinn und Zweck berücksichtigt. Unabhängig von dem Volumen eines geförderten Auftrags und daher von dem Anteil an der Gesamtförderung gibt der Zuwendungsempfänger deutlich zu erkennen, dass er auf die Förderung nicht angewiesen ist und das Vorhaben auch finanziell mit eigenen Mitteln durchführen kann. Die Förderung setzt in diesem Fall keinen Anreiz bei ihm, ein Vorhaben durchzuführen. Dieser Anreiz kann in der Förderpraxis kaum in Bezug derart zu einzelnen geförderten Ausgabeneinheiten gesetzt werden, dass bei einer Ausgabe der Anreizeffekt vorlag, bei der anderen nicht. Der Anreizeffekt ist ganzheitlich zu betrachten. Die geförderte Ausgabe kann noch so einen geringen Umfang haben, sie bringt vor dem Erlass des Bewilligungsbescheids bzw. der Ausnahmegenehmigung zum vorzeitigen Maßnahmebeginn deutlich zum Ausdruck, dass der Zuwendungsempfänger die Fördergelder nicht benötigt und ohne sie auskommt. Das Gericht beanstandet, dass keine Erwägungen dazu angestellt wurden, dass lediglich ein Teil von 3 % der Fördersumme ausgezahlt wurde. Es differenziert also sogar zwischen dem ausgezahlten Anteil der Ausgabeneinheit, bei der der vorzeitige Maßnahmebeginn festgestellt wurde, der gesamten betreffenden Ausgabeneinheit sowie der gesamten Fördersumme. Die Regelungen zum Verbot des vorzeitigen Maßnahmebeginn sprechen von dem Abschluss von Verträgen über Leistungen, die dem "Vorhaben" zuzurechnen sind. Das "Vorhaben" meint grundsätzlich aber das gesamte geförderte Vorhaben bzw. Projekt und differenziert nicht, welchem Teil des Projekts der geschlossene Vertrag zuzurechnen ist oder welcher Teil ausgezahlt worden ist, eben weil es auf den fehlenden Anreizeffekt in Bezug auf das geförderte Vorhaben ankommt, der beim vorzeitigen Maßnahmebeginn entweder gänzlich fehlt oder gänzlich vorliegt.
In der Folge ist es nicht verwunderlich, dass das Urteil nach derzeitigem Stand der Dinge noch nicht rechtkräftig ist, weil Berufung beim Verwaltungsgerichtshof eingelegt worden. Diese bleibt abzuwarten. Bis zur Entscheidung über die Rechtsmittel haben Zuwendungsempfänger aber mit dem Urteil des VG Gießen eine zuwendungsempfängerfreundliche Entscheidung an der Hand, falls Sie mit einer vollständigen Rücknahme des Bewilligungsbescheids wegen vorzeitigen Maßnahmebeginns konfrontiert werden.